
Bewertung: 3.5 / 5
Im Auftrag von Netflix laden Anthony Russo und Joe Russo für The Gray Man zu einer wahrhaftigen Actionsalve für eure Sinne ein, der es in einigen Detailfragen an letzter Durchschlagskraft mangelt. Ryan Gosling und Chris Evans liefern sich als disziplinierte Alphatiere einen spannenden Schlagabtausch, bei dem Stars wie Ana de Armas, Billy Bob Thornton und Bridgertons Regé-Jean Page mehr als nur bloßes Beiwerk sind und ebenfalls beweisen, was alles in ihnen steckt. Die 129 Minuten des bleihaltigen Katz- und Mausspiels vergehen dabei beinahe wie im Sturzflug: Keine der Szenen fühlt sich deplatziert oder unnötig in die Länge gezogen an. Die zahlreichen Ortswechsel zollen aber ihren Tribut.
The Gray Man Kritik
Unter dem Pseudonym „Sierra 6“ ist Court Gentry (Gosling) in der verschwiegenen Welt der CIA eine lebende Legende. Zahlreiche Missionen hat er in verdeckten Einsätzen erfolgreich beendet, doch nun ist er aufgrund der Aufdeckung kompromittierender Staatsgeheimnisse vor den Fängen seiner einstigen Institution nicht mehr sicher: Der größenwahnsinnige Ex-CIA-Agent Lloyd Hansen (Evans) hat Witterung aufgenommen und jagt ihn mit seinen Söldnertruppen rund um den Globus.
Trailer zu The Gray Man
Es kracht, feuert und explodiert bei der von Netflix initiierten Romanverfilmung The Gray Man mächtig aus allen erdenklichen Rohren. In Anbetracht all der testosteron-geschwängerten Zerstörungswut ist mit dem Sounddesign ein Ohrenschmaus geglückt, denn man hat darauf geachtet, dass die verschiedenen Umgebungen den Klang einschlagender Projektile merklich verändern, was für die nötige Abwechslung und Verortung beim fast durchweg scheppernden Klangteppich von verschießender Munition, detonierenden Granaten und klirrendem Fensterglas sorgt.
Auch in musikalischer Hinsicht bekommt man bei The Gray Man einiges auf die Ohren, wobei die beschwingten Pop-Musikstücke mit voranschreitender Spieldauer einem pompösen Orchester-Soundtrack weichen, der ähnlich wie der paramilitärische Schurke Lloyd Hansen absolut keine Gefangenen macht. Die satte Action des Films wird davon wunderbar getragen.
Apropos Action: Wir müssen monieren, dass es an dieser einen Szene mangelt, die The Gray Man langfristig im Gedächtnis verankert. In der ersten Hälfte des Streifens hatte das Drehteam für eine solch außergewöhnliche Szene die perfekte Gelegenheit. Zwar versuchte man für die besagte Stelle im Film alle Register zu ziehen, letztlich wird diese aber von einem wenig überzeugenden CGI-Einsatz in Mitleidenschaft gezogen, sodass sich dort nicht der gewünschte "Wow-Effekt" einstellen will.
Um es ganz plump zu sagen: Den Russo-Brothers wurden hier wahrscheinlich Grenzen gesetzt, die etwa für einen Mann wie Christopher Nolan nicht in gleicher Weise gelten. Das ist vor allem deshalb ärgerlich, weil die restlichen Gefechtsszenen mehr als nur routiniert daherkommen und bei den entsprechenden Choreografien und dem Schnitt merklich Arbeit hineingeflossen ist. Eine der vielen Verfolgungsjagden erinnert sogar frappierend an Heat und sein geistiges Kind The Dark Knight. Hier merkt man definitiv keine ungelenke CGI-Flut, wie sie manch einer im Vorfeld der Veröffentlichung vielleicht befürchtet hat.
Auch die Kameraarbeit für The Gray Man wirkt in den entscheidenden Auseinandersetzungen unheimlich direkt und nahbar. Auf engem Raum macht sich das beispielsweise dadurch bemerkbar, dass man mit ungewöhnlichen Blickwinkeln und Perspektiven sowie schnellen Schnitten arbeitet. Die Action verliert dabei in einigen überschaubaren Momenten zwar an Übersicht, gewinnt aber dann im selben Maße an Intensität, weil das Schneideteam genau auf dieses Gefühl beim Betrachten abzielt.
So toll die Inszenierung auch sein mag, manövriert sich das Drehbuch von The Gray Man im Großstadtdschungel aber in eine klägliche Situation, bei der man sich ernsthaft fragen muss, welche vermeintlichen Profisöldner auf der Gehaltsliste des von Evans gespielten Schurken stehen. Hat dieses überbezahlte Kanonenfutter eventuell zu viele Shootouts des Galaktischen Imperiums aus der Star Wars-Reihe gesehen? Die gewaltige Plotarmour von Gosling sucht jedenfalls ihresgleichen. Das ist allerdings ein Element, das zum Genre irgendwo dazuzählt. Trotzdem wäre uns solche Abgebrühtheit, wie sie der Hollywood-Beau hier an den Tag legt, auch mal lieb, wenn wir uns mal wieder an den heimtückisch scharfen Rändern des Druckerpapiers schneiden …
Gesagt sei auch, dass das Werk der Russos trotz Goslings Schutzpanzer definitiv über eine Menge emotionales Gespür verfügt: Zwar fehlte uns zu Beginn noch das Interesse an den persönlichen Schicksalen, doch dieser vorschnelle Eindruck wird in The Gray Man mehr und mehr aufgeweicht. Die Hauptfigur und ihr Werdegang zur Killermaschine wächst einem durch einige einschneidende Begebenheiten ans Herz, wodurch die Tragweite der verschiedenen Actionsequenzen passend unterstrichen wird.
Das im Hinterkopf, sind wir neben der Action auch schon bei der Spielfreude des von Netflix versammelt Casts angelangt. Wie nicht anders zu erwarten war, funktioniert die Dynamik zwischen dem Blade Runner 2049-Gespann Ryan Gosling und Ana de Armas außerordentlich gut. Glücklicherweise verlässt man sich nicht auf offensichtliches erotisches Geplänkel zwischen den beiden, wobei etwa wegen situativer Missverständnisse in den hitzigen Gefechten der ein oder andere augenzwinkernde Kommentar zur Bewältigung des Mordkomplotts über die Lippen des Duos kommt.
Kommen wir nun aber endlich zum Konfliktpotenzial der beiden Titanen von The Gray Man: Wie versprochen ist die unbarmherzige Auseinandersetzung von Court Gentry aka Sierra 6 mit dem von Chris Evans gespielten Lloyd Hansen recht intensiv geraten. Der maßlose Soziopath Hansen ist ein überaus passender Zerrspiegel für den Protagonisten - erneut also der Fingerzeig in Richtung des Action-Klassikers von Michael Mann. Die verquere Rollendynamik sorgt dafür, dass der Film zu Beginn undurchsichtig und unberechenbar erscheint, bevor er sich im weiteren Verlauf in bekannte Genre-Gewässer stürzt. Dennoch hätte man auch hier eine weitere Szene liefern können, um den Graben zwischen den beiden Männern noch weiter zu vertiefen.
Der Humor von The Gray Man verdient besondere Erwähnung, ist dieser doch von einigen amüsanten Kommentaren und verbalen Schlagabtauschen geprägt, die die fetzige Action und die ernste Geschichte passend auflockern. Auch wenn uns diese humorvollen Einlagen gefielen, könnte der Bogen für manche Menschen bereits mit diesen Gags überspannt sein.
Schön ist auch, dass Altstar Billy Bob Thornton einiges zu tun bekommt, damit die Handlung mehr und mehr in Gang gesetzt wird. Gemeinsam mit der Darbietung der 13-jährigen Julia Butters kann Thorntons nuanciertes Schauspiel ohne jeden Zweifel als emotionaler Dreh- und Angelpunkt des Films bezeichnet werden.
Bevor wir ein Fazit ziehen, möchten wir noch die Handlungsorte von The Gray Man Revue passieren lassen: Von einem neongefluteten Nachtclub über urbane Straßenschlachten bis hin zu einem protzigen Herrenhaus werden eine Menge Sets aufgefahren, um das Publikum bei Laune zu halten. Dabei müssen wir allerdings ankreiden, dass die Szenerien für unseren Geschmack etwas zu oft wechseln und dadurch eine gewisse Hektik verbreitet wird. Zwar sorgen die verschiedenen Settings wiederholt für Abwechslung, doch zugleich wirkt es ein wenig danach, als ob man recht bemüht Fähnchen auf einer Landkarte abgrasen würde.
Unser Eindruck wird auch davon gestützt, dass sich die vielen Lokalitäten nicht organisch aus den jeweiligen Gesprächssituationen ergeben, sondern immer wieder in Form bildschirmfüllender Schriftzüge angekündigt werden. Das scheint für viele Netflix-Produktionen das Mittel der Wahl, um das Publikum auf einfache Weise mit einem neuen Schauplatz vertraut zu machen. Jener Aspekt wirkt allerdings ein wenig einfallslos und hätte eleganter gelöst werden können. Trotzdem muss man fair bleiben und sagen, dass die Handlung von The Gray Man durch die Ortswechsel druckvoll vorangetrieben wird – das Tempo des knapp über zwei Stunden dauernden Agententhrillers ist nämlich enorm.
Ist The Gray Man nun der Heat unserer Zeit, wie das Marketing des Streaming-Giganten vollmundig suggeriert hatte? Ein direkter Vergleich scheint witzlos, da sich die beabsichtigten Stimmungen der beiden Filme zu sehr voneinander unterscheiden. Auch müssen wir betonen, dass der Action-Thriller von Netflix, trotz ähnlicher Ausgangslage um verkehrte Rollensituationen, nie die dramatische Tiefe des auserkorenen Vorbilds erreicht. Die Russo-Brothers hätten sich besser einfach nicht mit Michael Mann verglichen, ebenso täten auch Ryan Gosling (aka Robert De Niro) und Chris Evans (aka Al Pacino) gut daran, derartig gelagerte Gedanken gar nicht erst zu fokussieren.
Von Etikettenschwindel möchten wir zwar nicht sprechen, doch The Gray Man ist keine tiefschürfende Charakterstudie, sondern ein adrenalingetriebenes Actionabenteuer, das es in Sachen Bildgewalt und Wortwitz mit den James Bond-Ausflügen der Daniel Craig-Ära, der John Wick-Racheorgie oder auch der Mission: Impossible-Reihe aufnimmt. Allerdings fehlt es dem 200 Millionen US-Dollar schweren Streifen an letzter Konsequenz, die ihn in höhere Sphären katapultiert hätte.
Es ist schade, dass Netflix erneut die zugehörigen Kinopräsentationen ausschließlich als Sondervorstellungen anbietet. The Gray Man profitiert nämlich unheimlich davon, wenn man ihn mit der richtigen Ausstattung ansieht. Doch zweifellos wird der Agentenfilm auch eure heimischen vier Wände ordentlich unter Beschuss nehmen: Mit der Heimkino-Veröffentlichung am 22. Juli dürfen Action-Fans in der Sparte der tagesaktuellen Netflix-Highlights bedenkenlos auf die "Play"-Taste drücken.
In Hinblick auf die mögliche Zukunft des geplanten Franchises können wir eine Menge Potenzial bei den präsentierten Figuren ausmachen. Insbesondere das geplante Prequel zum von Chris Evans gespielten Bösewicht Lloyd Hansen dürfte die vorliegende Handlung von The Gray Man noch weiter unterfüttern und für einige irrwitzige Actionmomente sorgen.
Wiederschauwert: 70%
