Im November 2019 brachte sich der legendäre Regisseur und Oscar-Preisträger Martin Scorsese mit einer grimmigen Botschaft ins Gespräch, die bis heute nachhallt: "Marvel-Filme sind kein Kino!" Es fehle den Werken an Einsichtnahme in das Innenleben der Figuren. Die Beiträge des Superhelden-Genres seien dadurch zu identifizieren, dass sie oberflächlich stumpfe Effekte im Stile einer Achterbahnfahrt für das Publikum bereithielten (wir berichteten). Es folgten Stellungnahmen in der New York Times, dem Empire Magazine, sowie zahlreiche weitere Interviews zum Themenschwerpunkt:
Nun wagt sich Esquire erneut an das heiße Eisen, um etwas über das aktuelle MCU-Klima im Zuge der gepriesenen "Phase 4" mitzuteilen. In den Augen von Autor Tom Nicholson befindet sich die Marvel-Maschinerie in einer Sinnkrise, die den einstigen Boom längst hinter sich gelassen hat und von Ideenlosigkeit geprägt ist.
Selbstverständlich meint Nicholson damit nicht, dass die Franchise-Einträge keine hohen Box Office-Summen mehr einfahren, sondern er bespricht das allmählich sinkende Niveau, das er bei den Filmen und Serien des MCU zu erkennen glaubt. Thor - Love and Thunder habe etwa nur milde Kritiken eingefahren und rangiert aktuell gerade einmal auf Platz 7 der erfolgreichsten Filmen des Jahres. Im Gegenzug habe Thor - Tag der Entscheidung eine weitaus bessere Figur bei den Fans und den Kinokassen gemacht, obwohl er ähnlich kontrovers besprochen wurde.
Zwar kommt der Autor nicht umhin, anzuführen, dass sechs Marvel-Filme in zwölf Monaten weit über 4,5 Mrd. US-Dollar an den Kinokassen eingespielt haben, doch in der aktuellen Phase fehle es an echten Höhepunkten, wie sie die Beiträge des MCU bisher zu einem Ereignis machten und letzten Endes mit Avengers - Endgame ihren Zenit erreichten.
Tom Nicholson mutmaßt, dass Scorseses ursprüngliche Kommentare so unbarmherzig ausfielen und gleichfalls als zu undifferenziert von den Menschen aufgenommen wurden, habe wahrscheinlich daran gelegen, dass sie am Ende von Marvels stärkstem Lauf kamen. Der Autor legt die Vermutung nahe, dass man die damals lauthals geäußerte Kritik Scorseses als ignorant klassifizierte, weil der damals so unbändig scheinende Erfolg dem Studio und seinen Drehteams recht gab. Man habe die Kritik demnach mit den massigen Einnahmen lässig beiseite geschoben.
In dem Zusammenhang fiel es dem leidenschaftlichen Marvel-Publikum anscheinend leicht, einen Mann wie den Goodfellas-Regisseur zum alten Eisen zu zählen, der die heutige Welt mit ihren grassierenden nicht mehr versteht bzw. diese wertschätzen kann. Nicholson stellt die These auf, dass Marvel Indie-Lieblinge wie Eternals-Regisseurin Chloé Zhao und Taika Waititi auf Projekte angesetzt habe, um kritische Stimmen mundtot zu machen und dem Ruf zur Produktion banaler Durchschnittskost zu entgehen.
In den Augen des Autors kritisierte Scorsese Marvel aber nicht nur wegen der gleichförmigen Plots, sondern auch das System des MCU. Das fortwährende Streben nach "totaler kultureller Dominanz" habe das Studio erst in die derzeitige Lage gebracht - nicht einzelne Regisseur:innen oder Filme. Das Comic-affine Publikum bekomme nun das zu spüren, was Martin Scorsese durch seine Kommentare mitzuteilen versuchte: Marvels Ansatz bringe zwar schöne, aber emotional leere Filme hervor.
Als Ausgangspunkt nimmt Nicholson die Vergangenheit und die Zukunft des MCU in den Blick: In den letzten 18 Monaten wurden sechs Filme und sieben Fernsehserien veröffentlicht. Wiederum stehen vier Filme, vier Serien und zwei Specials in den kommenden 18 Monaten auf dem Programm. Die grassierende Übersättigung sei damit vorprogrammiert!
Nicholson moniert, dass der Terminplan hastig und überfüllt erscheine und sich dadurch jede weitere Marvel-Ankündigung gewichtslos anfühle. Die Richtungslosigkeit werde noch dadurch verstärkt, dass die bekannten Helden und Heldinnen allmählich weggebrochen sind bzw. wegbrechen werden und verweist dabei auf Iron Man (Robert Downey Jr.), Captain America (Chris Evans) und Black Widow (Scarlett Johansson). Es sei schwierig zu beantworten, wie sich das namhafte Studio aus dieser drohenden Misere herauswinden könne.
Am Ende seiner Betrachtung kann sich der Autor eine moralisierende Spitze nicht verkneifen, wobei er Martin Scorseses Apple-Film Killers of the Flower Moon mit seinen beiden Weggefährten Leonardo DiCaprio und Robert De Niro in den Hauptrollen als lohnenswertes Gegenbeispiel ins Feld führt, das die Verantwortlichen von Marvel eines Besseren belehren werde.
Lest auf Seite 2, wie wir zu den getroffenen Aussagen des Esquire-Artikels stehen!