
Martin (Mads Mikkelsen) kann eigentlich mit seinem Leben zufrieden sein. Er sitzt behaglich mitten im Bildungsbürgertum, arbeitet als Lehrer, ist verheiratet und hat zwei heranwachsende Kinder. Vorzeigefamilie, Vorzeigeleben, scheinbar. Aber irgendetwas fehlt da. Oder war mal da, und ist es jetzt nicht mehr. Geschichtsunterricht hat ja nun leider den Ruf, etwas trocken zu sein, aber Martin scheint redlich bemüht, seinen eigenen Stoff mit solchem Desinteresse vorzutragen, dass sogar den Schülern:innen irgendwann der Kragen platzt. Als einem dann die (anti-)Show Zuviel wird, und er wütend aus dem Klassenraum stürmt, kriegt Martin es noch nicht mal hin, mehr als eine halb-sarkastische Frage (wenn man ihm das zutrauen will) zu formulieren. Und bei genauerem hinsehen zieht sich dies wohl durch sein ganzes Leben. Sogar seine Frau Anika (Maria Bonnevie) macht bei genauerem Hinsehen den Eindruck, dass sie schon ein wenig aufgegeben hat, mit ihm Spaß zu haben.
Bei der Geburtstagsfeier eines Freundes macht dann allerdings nicht nur Martin einen leicht bedröppelten Eindruck, auch seine drei Freunde, alles Kollegen von der Schule, stecken irgendwo im Leben fest, oder fühlen sich zumindest so. Und hier formuliert sich auch schon das eigentliche Thema des Filmes: das Problem ist nicht der Rausch, das Problem sind die Leute die ihn suchen oder besser die Gründe, warum er gesucht wird. Das Geburtstagskind Nikolaj (Magnus Millang) zitiert in dieser Situation dann den – real existierenden – norwegischen Psychiater und Buchautor Finn Skårderud: Der Mensch werde mit einem zu niedrigen Blutalkoholpegel von 0,05 Prozent geboren, behauptet dieser. Martin, bis dahin abstinent und ach so vernünftig, zieht das Glas Wein runter, wie ein Ertrinkender nach Luft schnappt. Und dann überlegt man sich ein Selbstexperiment...
Trailer zu Der Rausch
Ich persönlich hatte meine Erwartungshaltung an Herrn Vinterberg nach seinem letzten Film Kursk, der sich der kontroversen Geschichte um den Untergang des gleichnamigen russischen U-Bootes im Nordmeer mit der Eloquenz einer TV-Verfilmung annahm, doch eher etwas gesenkt. Aber Der Rausch geht, tut mir leid wenn ich hier mal bei der Kritik der „Filmbulletin“ klaue, runter wie ein gut gereifter Wein. Die große Stärke liegt dabei in der Ambivalenz. Vinterberg (und noch so ein anderer Däne) sind zwar durch die „Dogma“ Bewegung bekannt geworden (und dabei ist zumindest auch ein guter Film herausgekommen, Spoiler, Die Idioten ist es nicht), aber hier ist angenehm wenig Dogma im Film. Soll heißen, belehrt wird der Zuschauer nicht. Die Situationen der „Protagonisten“ sind nachvollziehbar und nahbar, der Enthusiasmus bei den ersten Erfolgen des Experimentes wird für den Zuschauer ansteckend. Dabei helfen die lebendige Inszenierung, eine gute Prise absurder Humor, ein geschickt gewählter Soundtrack ("What a life, what a night/What a beautiful, beautiful ride" lauten die Zeilen des ohrwurmartigen, zentralen Songs), aber vor allem die fantastischen Schauspieler:innen. Und ich muss hier auf die ganzen Lorbeeren noch ein paar drauf schippen: Mads Mikkelsen läuft hier zur Weltklasse auf. Das Drehbuch leistet seinen Teil, aber mit ihm in der Rolle bekommen wir eine nuancierte, sensible Zeichnung einer Hauptperson, die unter anderen Umständen auch als Loser oder unsympathisch den Film begraben könnte.
Wenn man mal an andere Filmen denkt, die sich mit dem Thema Alkohol oder Alkoholismus beschäftigen, merkt man schnell, wie sehr hier ein schwarz-weiß Denken vorherrscht. In der Regel wird der Schluss gezogen, dass nur das Nüchternbleiben, Disziplin und Abstinenz zu einer ehrlichen, erfüllten Existenz führen kann. Vinterberg sagt jetzt nicht, dass wir uns alle besaufen sollten. Aber er propagiert auch mit Sicherheit kein vollkommen rauschfreies Leben, nein, Lust am Leben wollen, und brauchen, wir alle. Oder eben einfach einen „Kick“, eine Portion Selbstvertrauen mehr (eine Szene gegen Ende des Filmes, die in Lehrerkreisen bestimmt ganz toll ankam, macht das klar). Das Problem ist das Mittel der Wahl, und am Ende, ab wann ein Gebrauch zu einem Missbrauch wird. Zu viel des Guten tut selten gut, und so kommt nach dem großen Fest auch der Kater, für die Zuschauer perfekt in düsteren, konfrontativen Szenen eingefangen. Aber auch am Ende macht Vinterberg nicht einen auf Oberlehrer: jeder ist seines eigenen (Un)Glückes Schmied, und so dürfen unsere „Helden“ auch die eigenen Schlüsse aus ihrem Erlebten schließen, und ob sie daraus gelernt haben, was ihnen denn eigentlich gefehlt hat. Manche Scherbenhaufen sind aber zu groß, und manche Feuer dann erloschen.
Der Film dekliniert geschickt die Beweggründe und Motivationen durch, die einen dazu bringen könnten, mal „die Sau raus zu lassen“ (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), und lässt seine Protagonisten dann einfach mal los. Das ist infektiös für den Zuschauer, und diese Nähe zu den Personen ist wichtig, um uns klar zu werden: die da auf der Leinwand wollen dasselbe wie ich, Spaß, Selbstbewusstsein und sich von (selbst angelegten) Zwängen befreien. Vinterberg hat einen extrem menschlichen Film für (fehlerhafte) Menschen gemacht, was man ihm hoch auslegen sollte. Einziger Wermutstropfen für mich: die Geschlechterkonstellationen wirken doch etwas altbacken. Sehr passiv sind die Frauen, zumindest am Anfang, und flüchten sich in kleinere Affären oder werden zu latenten Hausdrachen, oder bleiben auf das „Lebensziel“ reduziert. Auf der anderen Seite, und das macht das ganze wieder glaubwürdig: Sich so eine Pseudostudie aus den Fingern zu saugen, um eine Saufbruderschaft zu gründen, ja das traut man dann eher uns Männern zu.